Posttraumatisches Wachstum
Am Trauma wachsen ?
Schreckliche Erlebnisse wie Krieg oder Krankheit können Menschen innerlich zerstören – viele jedoch entwickeln eine neue Stärke.
Richard Tedeschi ist ein aufmerksamer Zuhörer mit einer vertrauenerweckenden, ruhigen Stimme. Er leitet seit 25 Jahren eine Gruppe für trauernde Eltern, berät Menschen, die ihren Partner verloren haben, Schwerverletzte, Krebspatienten und Veteranen. Immer wieder überraschten ihn Patienten damit, sie hätten nach einem Unglück festgestellt: "Mein Leben hat sich zum Besseren verändert. Ich glaube nicht, dass das so gekommen wäre, wenn mir das nicht passiert wäre. Alles zusammengenommen, hat es sich für mich zum Positiven gewendet."
Menschen berichteten von Zugewinnen in fünf Bereichen, sagt Tedeschi: Sie seien sich ihrer eigenen Stärke bewusst geworden, hätten tiefere Beziehungen zu anderen Menschen entwickelt, neue Lebensperspektiven entdeckt, wüssten das Leben stärker zu schätzen oder hätten eine intensivere Spiritualität entwickelt. Er zitiert Studien mit Überlebenden von Katastrophen, die von Tsunamis, Kidnappings und Vergewaltigungen bis hin zu Kriegen und Folter reichen: 30 bis 70, in manchen Fällen sogar bis zu 90 Prozent der Betroffenen berichten, dass sie mindestens einen Aspekt von posttraumatischem Wachstum erfahren hätten.
Das Konzept des posttraumatischen Wachstums ist heikel. Es kann Druck auf Menschen ausüben, die mit ihrem Schicksal hadern. Kaum etwas nervt Betroffene mehr als wohlmeinende Sprüche wie "Wer weiß, wozu es gut ist?". Das Konzept ist auch deshalb nicht unbedenklich, weil das sehr reale Leiden von Gewaltopfern, Kriegsveteranen oder Holocaust-Überlebenden lange kleingeredet und als Einbildung abgetan wurde. Im Ersten Weltkrieg lachten Ärzte über das sogenannte "Kriegszittern", folterten die "Feiglinge" mit Elektroschocks und schickten sie gleich wieder an die Front. Viele Traumatisierte wurden und werden missverstanden und misshandelt, sogar durch Unverständnis aufs Neue traumatisiert.
Der gesamte Artikel von Michaela Haas erschien in der DIE ZEIT Nr. 36/2015, 3. September 2015 - HIER ist der Link!