Unbegleitete traumatisierte Flüchtlinge müssen betreut werden!
Der 17-Jährige, der mit einer Axt Zugreisende verletzt hat, war ein unbegleiteter Flüchtling. Die Aggression vieler Flüchtlinge sei die Folge von Hunger, Gewalt und Todesangst, erklärt die Trauma-Psychologin Eva Möhler im heute.de-Interview. Und sie benennt Präventionsmöglichkeiten.
Prof. Eva Möhler ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Sie ist Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie SHG-Kliniken Saarland. Sie und ihr Team betreuen auch minderjährige unbegleitete Flüchtlinge im Saarland.
heute.de: Was bringt einen jungen Flüchtling, der es bis nach Europa und dann nach Deutschland geschafft hat und wohl recht gut betreut wurde, dazu, eine derartige Tat zu begehen?
Eva Möhler: Ich kann nur aus unseren Erfahrungen sagen, die wir in der Arbeit mit den Flüchtlingen sammeln, dass diese Kinder in einem massiv angespannten Zustand hier in Deutschland ankommen, weil die auf der Flucht Folter, Gewalt, Hunger, Todesangst und auch massivste Belastungen erlebt haben. Die haben sie noch gar nicht verarbeitet und sie erwarten ständig, dass wieder etwas Schlimmes passiert. Sie sind also in einer ständigen Erwartungshaltung des nächsten Angriffs, der gleich auf sie zukommen könnte. Deshalb gehen sie ganz oft in die Vorwärtsverteidigung und werden aggressiv.
heute.de: Was treibt Einzeltäter an? Eifern sie Vorbildern nach?
Eva Möhler: Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sind Jugendliche, die vollkommen haltlos hier ankommen, die oft den Kontakt zu ihrer Familie verloren haben. Sie haben keine Eltern mehr und sind auf der Suche nach einer neuen Identität. Von daher können sie natürlich auch leicht Opfer von Radikalisierung werden, einfach weil sie eine neue Identität, ein neues Verbundenheitsgefühl suchen. Auf der anderen Seite, ist es oft gepaart mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie können nicht schlafen, sie sind depressiv, sie fühlen sich schlecht. Und dann greifen sie natürlich umso mehr nach irgendetwas, was ihnen Halt gibt. Das kann natürlich etwas Islamistisches sin, ich könnte mir aber auch gut vorstellen, dass einem Flüchtling ganz ohne islamistischem Hintergrund einfach mal die Sicherung durchbrennt und dann irgendetwas Schreckliches passiert.
heute.de: Kann man präventiv vorbeugen?
Eva Möhler: Ja, ganz erheblich. Wenn die direkt von der Grenze kommen, versuchen wir, den Stresspegel erstmal runter zu regulieren. Diese massive Anspannung, in der sie sich befinden, runter zu fahren durch progressive Muskelentspannung und andere Verfahren, da gibt es ja therapeutische Techniken. Und wir sehen, dass sich -zumindest bei uns in den Flüchtlingseinrichtungen im Saarland – die Zahl der gewalttätigen Auseinandersetzungen reduziert hat und auch die Häufigkeit, dass sie wegen irgendeines kleinen Ereignisses plötzlich brutal aufeinander losgehen, ist viel weniger geworden. Ich glaube aber, das müssen wir viel breitflächiger und viel öfter machen, sonst sitzen wir auf einer Zeitbombe, wenn die Kinder mit dieser Anspannung und dem Stress vom unverarbeiteten Trauma hier auf den Integrationsdruck stoßen. Da muss etwas gemacht werden.
heute.de: In welchem Zustand sind sie denn, wenn sie hierher kommen?
Eva Möhler: Wir nennen es Hypervigilanz mit einem therapeutischen Fachausdruck, das ist eine übertriebene Wachsamkeit. Und das ist etwas, was Menschen entwickeln, wenn sie mehrere traumatische Erfahrungen hinter sich haben. Sie befinden sich in einem Modus der Hyperwachsamkeit. Das heißt, sie scannen die Umgebung ständig ab auf irgendwelche möglichen Gefahren und reagieren dann auf diese, auch wenn es gar keine wirkliche Gefahr war. Zum Beispiel ein böses Gesicht oder eine Beleidigung eines anderen Mitflüchtlings nehmen sie dann gleich als mögliche Kampfansage und reagieren dann auf einen vermeintlichen Angriff. Und das ist natürlich eine explosive Mischung, die wir in der Form so auch in Deutschland noch nicht hatten.
heute.de: Bilden diese Kinder Angriffsfläche? Sind sie leicht manipulierbar?
Eva Möhler: Sie sind sehr verletzlich. Sie suchen Erwachsene, die sich ihnen zuwenden. Zum Teil sind sie ja erst 14 oder 15, also noch sehr jung, und haben ganz normale kindliche Bedürfnisse nach erwachsener Zuwendung und wenn sie die nicht in hinreichendem Maße kriegen, dann holen sie sich das irgendwo. (…) Wenn sie diese Zuwendung dann in irgendwelchen Radikalisierungskontexten bekommen, dann ist das natürlich ein Risiko. Ohne dass die Kinder daran schuld wären. Sie wollen sich einfach ein legitimes kindliches und jugendliche Bedürfnis erfüllen, das andere Kinder in ihren Familien bekommen.
heute.de: Konnte man mit so etwas, wie es in Würzburg passiert ist, rechnen? War das vorhersehbar?
Eva Möhler: Ich habe mich ehrlich gesagt umgekehrt gewundert, dass so was so wenig passiert. Weil wir die Kinder ja sehen, in welchem Zustand sie kommen. Denen geht es ganz schlecht, sie greifen zu Suchtmitteln, sie verletzen sich selbst, sie schlagen mit dem Kopf an die Wand, die gehen aufeinander los. Sie wollen aber auf der anderen Seite nicht psychiatrisiert werden. Psychiatrie ist in diesen Kulturkontexten etwas ganz Schlimmes, etwas sehr Beschämendes. Und die Kinder wollen keine Schwäche zeigen. Sie schämen sich dafür, wenn sie mal traurig waren, Gefühle sind oft voller Scham. Und das ist ein Drahtseilakt für uns, die helfen wollen, denn diese Hilfe brauchen sie ja.
heute.de: Der IS hat den Axtangriff für sich reklamiert, so meldet es zumindest die IS-nahe Agentur Amak. Sagt das etwas aus über die Manipulierbarkeit der Flüchtlinge?
Eva Möhler: So oder so halte ich die Flüchtlinge schon für manipulierbar, jetzt nicht im bösen Sinne sondern einfach im Sinne von verletzlich. Die haben ganz viel verloren, viele haben den gewaltsamen Tod ihrer Eltern erlebt oder nahestehende Bezugspersonen und viele haben die Herausforderung, eine neue Existenz aufzubauen und da liegt jetzt so viel Bürokratisches, so viel Undurchschaubares vor ihnen, da ist natürlich so eine klare, einfache Ideologie schon ein großes Risiko. Ich glaube aber, das ist eine Manipulierbarkeit, der wir als Gesellschaft begegnen könnten, aber das sollten wir möglichst tun, bevor ganz viel passiert ist.
heute.de: Wenn es denn dann passiert ist, ist da noch irgendwas zu machen?
Eva Möhler: Für diesen jungen Mann ja leider nicht mehr, aber er ist ja nicht alleine. Wir haben ja Hundertausende minderjährige Flüchtlinge bei uns und sehr viele, die ich kenne, würde ich als emotional sehr labil bezeichnen. Nicht unbedingt als potenzielle Gewalttäter, wir sehen ja auch, dass sie sich selber was antun zum Beispiel, und das Risiko muss auch nicht IS sein, aber generell ist es eine Risikopopulation, wenn diese Kinder und Jugendlichen nicht intensive Hilfe erfahren. Und zwar eigentlich schon direkt nach der Ankunft in Deutschland. Denn die Zahlen sagen eindeutig: 80 bis 90 Prozent dieser Kinder haben eine schwere posttraumatische Belastungsstörung.
Das Interview führte Verena Mengel. Quelle und Link: ZDF heute 3.8.2016