Verharmlosung im Programm? - Kritik von Martha Schalleck an die "Unabhängigen Kommission ... "
Offener Brief an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs:
Verharmlosung im Programm? Anmeldung von Klärungsbedarf
Sehr geehrte Damen und Herren der Kommission,
als Überlebende sexuellen Missbrauchs und Sachbuchautorin bin ich außerordentlich dankbar für die Aufarbeitungskommission des Bundes und die Gelegenheit, gehört zu werden. – Misstrauisch wie mich das Leben nun einmal gemacht hat, habe ich dennoch ein bisschen über die Mitglieder dieser Kommission recherchiert.
Die Kommission macht auf den ersten Blick einen vorbildlichen Eindruck. Viele der Mitglieder haben sich um den Kampf gegen sexuellen Missbrauch und für soziale Gerechtigkeit verdient gemacht. Ein persönliches Highlight für mich ist Barbara Kavemann. Ihr Buch "Väter als Täter" kam zu einer Zeit heraus, da man in persen Parteien noch daran arbeitete, sexuellen Missbrauch am besten ganz von der Strafbarkeit zu befreien, und es war eines der ersten Bücher zum Thema, das ich gelesen habe.
Als nächstes fiel mir aber eine Fachperson in der Kommission ins Auge, die nie politisch oder mit Opfern gearbeitet hat, sondern mit Tätern: Peer Briken. Die Arbeit mit Tätern ist natürlich wichtig, das würde ich nie in Frage stellen wollen, im Gegenteil – und dennoch stößt es mir gleich ein bisschen auf. Ich dachte, hier sollen die Opfer zu Wort kommen. Und wer mit Tätern arbeitet, muss natürlich mehr Verständnis für diese zeigen als Überlebende manchmal ertragen können.
Ich suche also nach Veröffentlichungen von Peer Briken zur Opferperspektive. Im "Forum Online" Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 2010, Ausgabe 3, findet sich ein Artikel von Briken und der Psychoanalytikerin Hertha Richter-Appelt. Beide Autoren sind in der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung engagiert. Der Titel des Artikels lautet schlicht: "Sexueller Missbrauch - Betroffene und Täter"
https://forum.sexualaufklaerung.de/index.php?docid=1355
Der Artikel beginnt mit der Forderung, in der Diskussion um sexuellen Missbrauch auch die Seite des Kindes im Auge zu behalten. Das mutet etwas merkwürdig an, denn geht es in der ganzen Diskussion nicht letztlich immer um die Seite des Kindes?
Im Text finde ich dann eine ganze Reihe von irritierenden Äußerungen. So wird davon gesprochen, dass es sich bei sexuellem Missbrauch um eine potenziell traumatisierende Situation handele, die u.a. auch in positive Beziehungsaspekte eingebettet sei. Es sei Missbrauch aufgedeckt worden, ohne zu bedenken, welche Folgen diese Aufdeckung für die betroffenen Kinder haben könnte. Es sei außerdem ganz entscheidend, dass ein und dieselbe Straftat zu ganz unterschiedlichen Folgen führen könne.
Es heißt auch, dass nicht nur sexuelle Handlungen zu einer "Traumatisierung der Sexualität" führen könnten. Hierzu wird noch angemerkt: "Diese ergänzenden Aspekte spielen jedoch in der modernen Strafgesetzgebung und der sogenannten Missbrauchsdiskussion praktisch keine Rolle." Und die Autoren beklagen: "In letzter Zeit wird oft jede Form eines sexuellen Übergriffs als Gewaltanwendung bezeichnet. Dies differenziert jedoch zu wenig den großen Unterschied zwischen »zärtlich« erscheinenden und mit groben Verletzungen einhergehenden Grenzüberschreitungen." Die Reaktion auf die Erwachsenensexualität führe "in manchen Fällen zu Neugierde (z.B. für das männliche Genitale als Folge einer Begegnung mit einem Exhibitionisten), manchmal sogar zu einem sehr ausgeprägten Interesse für Sexualität."
Solche Äußerungen sind mir leider aus verschiedenen und ganz anderen Zusammenhängen als denen der Hilfe für Opfer allzu bekannt.
Auf den folgenden zwei Seiten gebe ich einige Absätze aus dem Artikel ungekürzt wieder. Sie enthalten eine Fülle von irritierendem Material, das für sich selbst sprechen und an dieser Stelle nicht im Einzelnen diskutiert werden soll:
"Die sichtbare sexuelle Erregung (nicht gleichzusetzen mit subjektiv empfundener Lust) des Kindes kann wiederum zu einer sexuellen Erregung des Erwachsenen führen. In der Missbrauchssituation kann also eine Wechselwirkung zwischen kindlicher Erregung und sexueller Erregung beim Erwachsenen entstehen. Die Beschreibung einer Missbrauchssituation sollte sich nicht ausschließlich auf die »Befriedigung der Bedürfnisse des Mächtigeren« beschränken, da dann das sexuelle Erleben des Kindes unberücksichtigt bleibt. Gleichwohl können aber Kinder in einer für sie traumatisierenden Situation durchaus auch eigene Bedürfnisse befriedigen. Früher wurde oft behauptet, ein sexuell impotenter Mann könne nicht sexuell missbrauchen, da er ja nicht sexuell erregt werden könne. Er kann aber dennoch traumatisierend mit einem Kind umgehen. Die Argumentation macht deutlich, wie wichtig es ist, die Seite des Kindes im Auge zu behalten." [...]
"Während die Beschäftigung mit sexueller Stimulierung durch erwachsene, meist männliche Personen im Bereich der Sexualstraftaten und in der Psychotherapie eine wichtige Rolle spielt, wissen wir relativ wenig über das Problem der Über- (und Unter-)stimulierung im Genitalbereich bei der Erziehung kleiner Kinder, die noch keine Sprache erlangt haben. Es gilt als allgemein anerkannt, dass das Gedächtnis nicht erst mit dem Spracherwerb einsetzt, sondern bereits lange vor der Fähigkeit Dinge zu benennen. Es gibt somit ein vor sprachliches und ein Körpergedächtnis. Untersuchungen der Säuglingsforschung haben in diesem Punkt die Annahme der Psychoanalyse, dass Entwicklungsprozesse, die vor dem Spracherwerb stattfinden, die psychosexuelle Entwicklung beeinflussen, bestätigt (Dornes 1993). Die Traumatisierung der Sexualität kann somit bereits vor dem bewussten Erleben von Körpervorgängen stattfinden. Bei regelmäßiger Überstimulierung wird ein Kind in dem Moment, in dem es bewusst die Körpervorgänge wahrnimmt, Überstimulierung und Übererregbarkeit nicht als etwas Ungewöhnliches erleben, da es diese immer schon erfahren hat. Diese Kinder können später beispielsweise ein suchtartiges Verlangen nach sexueller Erregung (z.B. dranghaftes Masturbieren etc.) entwickeln." [...]
"Obwohl es sich bei der Traumatisierung der Sexualität nicht immer um sexuellen Missbrauch handelt, soll diese hier Erwähnung finden. In der öffentlichen Diskussion der letzten Jahre spielte die Angst vor einer unkontrollierten, impulsartigen »perversen« männlichen Sexualität eine zentrale Rolle. Wenig Berücksichtigung fanden Aspekte der psychosexuellen Entwicklung, die zu einer Störung der Sexualität durch Unterdrückung, Bestrafung führen. Frauen als »Täterinnen« im Rahmen der Erziehung spielen sicherlich hier eine bedeutsame Rolle." [...]
"Im Zusammenhang mit der Diskussion um den sexuellen Missbrauch wurde immer wieder die Notwendigkeit betont, wie wichtig es sei, unerkannten sexuellen Missbrauch aufzudecken, oft auch ohne zu reflektieren, welche Konsequenzen das Aufdecken eines Missbrauchs für das betroffene Kind selbst haben könnte. Folgt man der Missbrauchsdiskussion, lauert hinter allen möglichen Ereignissen und Situationen die gefährliche, meist männliche Sexualität. Es kann sich aber auch eine übertriebene Angst von Erziehern vor körperlicher Berührung von Kindern im Genitalbereich oder die Bestrafung von Selbstbefriedigung oder Doktorspielen im Kindesalter negativ auswirken." [...]
"Diese Ausführungen machen deutlich wie eingeschränkt unsere Sichtweise sexueller Traumatisierungen ist, wenn wir uns nur auf den sexuellen Missbrauch beschränken. Bestrafungen und Verbote fallen nicht darunter und werden, wenn überhaupt, wegen der körperlichen Züchtigung, nicht wegen der Traumatisierung der Sexualität bestraft." [...]
"Gleichzeitig erleben wir gerade gegenwärtig eine Zeit, in der wir Gefahr laufen, im Umgang mit Sexualität sehr schnell Übergriffiges, Verwahrlostes oder Gefährliches wahrzunehmen. Dieses Spannungsverhältnisses zwischen notwendiger Verantwortung und Entdramatisierung sollten sich insbesondere die professionell mit Betroffenen und Tätern Umgehenden immer bewusst sein."
Wie gesagt möchte ich hier nicht alle für mich unangenehmen Aussagen kommentieren. Ich hoffe, dass Sie auch so Verständnis für meine Bitte an Herrn Briken haben, darzulegen, was genau vor dem Hintergrund dieses Artikels seine Gründe und Ziele für die Mitarbeit in der Kommission sind. Unter dem von ihm genannten Ziel: "die Strukturen für Beratung und Therapie von Betroffenen zu verbessern", kann man sich angesichts dieses Artikels durchaus Unterschiedliches vorstellen. Eine klare Positionierung zur Kampagne "Missbrauch-mit-dem-Missbrauch" wäre ebenfalls wünschenswert.
Was auch immer die Zusammenhänge an dieser Stelle sind, leider musste ich in der Vergangenheit feststellen, dass sich Missbrauch verharmlosende und verleugnende Mindermeinungen an wichtigen Stellen in unserer Gesellschaft durchsetzten. So sind bei der Beurteilung von Vorwürfen wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht und in der Presse als Folge der "Missbrauch-mit-dem-Missbrauch"-Bewegung die Erkenntnisse der Traumaforschung unterrepräsentiert. Oft findet nicht einmal im Ansatz eine Auseinandersetzung mit ihnen statt, sondern es werden Helfer und Opfer pauschal abqualifiziert. Wie im Artikel von Briken fällt regelmäßig der Vorwurf der Hysterie, der Verteufelung männlicher Sexualität, des Verwechselns eigener Ängste und Fantasien mit realen Übergriffen.
Ein Urteil des BGH aus dem Jahr 1999 hat den Ausschluss der Traumaposition aus juristischen Verfahren dann in Stein gemeißelt - und damit einen Wunschtraum für viele Täter wahr werden lassen. Von den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit den Folgen sexuellen Missbrauchs befassen, wurde zu diesem Urteil keine einzige gehört. Lediglich die Disziplin der "Aussagepsychologie", deren Erkenntnisse für Fragen des sexuellen Missbrauchs naturgemäß nur von untergeordneter Bedeutung sein können, wurde gehört und fand ihren Niederschlag im Urteil.
Und dieses Urteil kann in seiner Bedeutung überhaupt nicht hoch genug bewertet werden. Seitdem empfehlen Anwälte den Opfern häufiger, erst gar nichts zu versuchen, oft lohnt es nicht einmal einen Antrag auf Opferentschädigung zur Therapiefinanzierung zu stellen. Schlimmer noch: Betroffene Kinder aus laufenden Missbrauchsverhältnissen zu befreien, erweist sich immer wieder als schier unmöglich.
Gerade an dieser Stelle gäbe es den vielleicht wichtigsten Aufarbeitungsbedarf für die Kommission, damit sich endlich das vorhandene Wissen auch gesellschaftlich in der realen Möglichkeit, Kinder vor Missbrauch schützen zu können, niederschlagen könnte
Weiterhin ist zu bedauern, dass neben den Autoren des kritisierten Artikels eine ganze Reihe von Einrichtungen, so auch perse Parteien, so auch die Sexualwissenschaft eine klare Neudefinition sexuellen Missbrauchs unter Berücksichtigung der Traumaposition vermissen lassen – von einer Aufarbeitung vergangener "pädophilenfreundlicher" Positionen mit ihren schrecklichen Folgen ganz zu schweigen. Der Artikel findet sich schließlich nicht irgendwo, sondern auf einer Aufklärungsseite des Bundes.
Was tun?
Der Artikel zeigt Klärungsbedarf auf. Einige Beispiele für zu beantwortende Fragen, die sich daraus stellen:
- Müssen wir mehr als bisher reflektieren, welche Folgen die Aufdeckung eines sexuellen Missbrauchs für die betroffenen Kinder hat?
- Gibt es das: Eine sexuelle Unterstimulierung von Kindern?
- Kann man sexuellen Missbrauch auch als "zu große körperliche Nähe" bezeichnen? Gibt es Kinder und Situationen, da Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen vielleicht weniger schädlich ist?
- Kann die übertriebene Angst von Erziehern vor körperlicher Berührung von Kindern im Genitalbereich eine mögliche Ursache für Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs sein? Sollten Erzieher vielleicht weniger Angst vor solchen Berührungen haben?
Man könnte es vielleicht auch einfacher zusammenfassen. Wir brauchen eine solide Definition: Was ist eigentlich sexueller Missbrauch? Warum wird er heute - in allen Formen - als schädlich angesehen?
Zusammenfassend schlage ich der Kommission vor bzw. bitte um:
1. Aufarbeitung der Bewegung "Missbrauch-mit-dem-Missbrauch" aus Sicht von Opfern und Überlebenden. Diese Kampagne findet sich im Briken-Artikel repräsentiert durch Sätze wie: "Folgt man der Missbrauchsdiskussion, lauert hinter allen möglichen Ereignissen und Situationen die gefährliche, meist männliche Sexualität." (Gerne stelle ich meine hierzu veröffentlichten Ergebnisse der Kommission zur Verfügung.)
2. Erarbeitung einer Definition sexuellen Missbrauchs und einer Erklärung der Schädlichkeit jeglichen sexuellen Missbrauchs unter Berücksichtigung des aktuellen Standes von Wissenschaft (Trauma-, Bindungs-, Hirnforschung) und therapeutischer Praxis.
Eine klare, fundierte Aussage zu diesen Fragen, über die offenbar noch keinesfalls Klarheit vorausgesetzt werden darf, wäre für eine gesellschaftliche Weiterentwicklung sicher hilfreich.
Mit freundlichen Grüßen
Martha Schalleck, im Dezember 2016
Veröffentlichung bei D+T autorisiert durch die Autorin.