HAYDEN, Torey L. [Traumabedingter selektiver Mutismus; erzählende Fallgeschichten]
Torey L. HAYDEN: Kevin. Der Junge, der nicht sprechen wollte (Bern/München/Wien 1985)
dies.: Jadie. Das Mädchen, das nicht sprechen wollte (München 1991)
dies.: Hörst du mich, Venus? Ein schweigendes Kind verstehen (München 202)
Torey L. Hayden – eigentlich Victoria Lynn Hayden – wurde am 21. Mai 1951 in Livingston im US-Bundesstaat Montana geboren. 1980 zog sie nach Wales, heiratete 1982 einen Schotten und brachte 1985 ihre Tochter Sheena zur Welt.
Mit ihr lebt sie zur Zeit auf einer Farm in Schottland.
Torey Hayden ist ausgebildete Psychologin und Pädagogin für verhaltensgestörte und geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Sie entwickelte eine Methode zur Behandlung von (s)elektivem Mutismus (Stummheit bei vorhandener Sprachfähigkeit) und erlangte durch die spannenden Fallschilderungen „ihrer“ Kinder international große Aufmerksamkeit.
Genau diese Kombination einer fachlich äußerst kompetenten Psychologin mit großer Empathie für ihre kleinen Schützlinge und einer großartigen Schriftstellerin mit besonderer Gabe, die Heilungsprozesse „ihrer“ Kinder anschaulich und lebendig zu schildern, macht die Einzigartigkeit und Besonderheit der Persönlichkeit Torey Hayden aus.
Zu Recht zählt sie deshalb in ihrer Heimat und in Europa zu den bekanntesten und erfolgreichsten Autorinnen des psychologischen Sachbuches.
Insbesondere in den Büchern Kevin, Venus und Jadie setzt sich Torey Hayden mit ihrem Spezialsymptom selektiver Mutismus auseinander und geht dessen Wurzeln auf den Grund. Bei den in diesen drei Büchern geschilderten Fallgeschichten ist die Ursache für die Stummheit der Kinder traumatischer Natur.
Kevin hat unvorstellbare Grausamkeit seitens seines sadistischen Stiefvaters erlitten, der sogar Kevins über alles geliebte Schwester umgebracht hat.
Auch Venus erlebte in ihrer Familie brutale Gewalt durch den tyrannischen Stiefvater.
Jadie wurde in eine Familie hinein geboren, die rituelle Gewalt im Rahmen eines satanischen Zirkels an ihren Kindern praktizierte.
Mit dieser Aufdeckung traumatischer Ursachen führt Torey Hayden alle LogopädInnen, denen in ihren therapeutischen Bemühungen nichts anderes einfällt, als mit mutistischen Kindern sprechen zu üben, ad absurdum. Die von Torey Hayden beschriebenen mutistischen Kinder haben keinerlei Defizite an ihrem Sprechapparat, die sich wegüben ließen. Vielmehr hat bei den betroffenen Kindern die Instanz in der menschlichen Psyche, die den Antrieb für die Sprechfunktion beherbergt, Schaden genommen - und zwar durch brutale Gewalt, die über einen längeren Zeitraum auf die kindliche Seele eingewirkt hat.
Torey Hayden versteht es, durch ihre lebendige Erzählkunst den Leser teilhaben zu lassen an jedem einzelnen ihrer oft vergeblichen Versuche, in Kontakt mit den geschundenen Seelen „ihrer“ Kinder zu kommen. Wie in einer Loge im Theater verfolgt der Leser mit Spannung, Anteilnahme und Erschütterung über die Schrecklichkeit der beschriebenen Kinderschicksale die Entwicklung des therapeutischen Prozesses in jedem einzelnen „Fall“.
Besonders nachdenklich macht eine Passage in dem Buch Venus.
Hier beschreibt Torey Hayden die Reaktion von Venus, als es ihr gelingt, Venus aus ihrer Herkunftsfamilie herauszulösen und in ein neues gutes Zuhause bei liebevollen Pflegeeltern zu geben. Wie Torey Hayden erwartet auch der Leser, Venus müsse überglücklich sein und vor Freude jubilieren, der Gewalt-Hölle in ihrer Herkunftsfamilie entronnen zu sein. Venus´ Umwelt reagiert geradezu verstört, als Venus nicht die gewünschte Reaktion zeigt, sondern sich ganz im Gegenteil nach ihrer Herkunftsfamilie zurück sehnt – einfach deshalb weil sie ihr vertraut ist. Venus trauert um ihr verlorenes Zuhause, egal wie schlecht es ihr dort ergangen ist. Ihre Reaktion zeigt, dass es bei misshandelten Kindern nicht damit getan ist, die Gewalt durch Wechsel des Umfeldes wie einen Wasserhahn einfach abzustellen, sondern dass die betroffenen Kinder viel weiter gehende emotionale Zuwendung benötigen.
Zur Person Torey Hayden erhält man auf ihrer homepage einige interessante Infos über ihren Werdegang:
http://www.torey-hayden.com/german/index.html
Ist sie eigentlich mehr Psychologin oder mehr Schriftstellerin?
Nun – Schriftstellerin wollte sie schon immer werden. Mit 8 Jahren hat sie ihre erste kleine Geschichte über einen Hund geschrieben. Als sie die Geschichte später wieder gelesen hat, erlebte sie die Dinge, die sie beschrieben hat, mit allen dazu gehörigen Gefühlen noch einmal. Schreiben findet sie wie fotografieren – eine Momentaufnahme herstellen nicht von Gegenständen, sondern von menschlichen Gefühlen, eine Tätigkeit voller Magie und Zauber…
Schreiben – das ist für Torey Hayden wie atmen, essen und schlafen – ein elementares Grundbedürfnis im Leben. Es fühlt sich für sie organisch an, weil es etwas ist, was es sie treibt zu tun. Niemals musste sie sich in ihrem Leben zwingen zu schreiben; vielmehr musste sie sich zwingen, gelegentlich das Schreiben zu unterbrechen, um auch die anderen notwendigen Dinge des Lebens zu erledigen.
Ihren ersten Uni-Abschluss hat sie in Biologie gemacht.
Die Hinwendung zur Sozialpädagogin kam mehr durch Zufall, als sie in einem Programm für benachteiligte Kinder mitarbeitete. Ihre dortigen Erfahrungen wollte sie gern festhalten, als erstes ihre außergewöhnliche Zeit mit Sheila, deren Geschichte sie in 8 Tagen – wie sie sagt – zu Papier gebracht hat. Erst dann habe sie gedacht: Mensch, das ist ja ein Buch!
Wenn man Torey Haydens Bücher liest, fragt man sich, wie es möglich ist, dass sie ihre Fälle so detailgenau schildern kann. Der Grund dafür ist: Sie hat schon sehr früh technische Hilfsmittel wie Videokameras und Tonbänder verwendet, um ihre Therapiestunden festzuhalten.
Daneben hat sie Tagebuch geführt. Wichitg ist ihr auch, die Privatsphäre ihrer Protagonisten zu wahren, indem sie deren Identität verfremdet und nur die Dinge niederschreibt, die für das Verständnis der Geschichte unerlässlich sind.
Zwei ihrer Bücher wurden – mehr oder weniger gelungen – verfilmt: Sheila und Kevin.
Torey Hayden hat einen wichtigen Tipp für AutorInnen: Schreib´ über Dinge, die du kennst! Nur was man kennt, kann man aus dem eigenen Erleben heraus authentisch beschreiben.
Neben wahren Geschichten schreibt Torey Hayden auch Romane, in denen sie ihrer Kreativität freien Lauf lassen kann.
Übrigens – heute züchtet Torey Hayden auch Schafe der Rasse Black Welsh moutain sheep - womit sie wieder bei der Biologie gelandet ist. Und sie betätigt sich als archäologische Ausgräberin.
Eine wahrhaft vielseitige Person!
Rezension von KIGA
(siehe deren Buch 'Die Hölle mitten im Garten Eden' auf dieser Literaturliste)
Anmerkung: In der logopädischen Fachliteratur wird Torey Hayden kaum rezipiert. Ausschließlich der erste Teil einer zweiteiligen Studie erscheint in den einschlägigen Literaturverzeichnissen: 'Classification of elective mutism' (Journal of the American Academy of Child Psychiatry 19 [1980], 118-133). Der zweite Teil befaßt sich mit ihren therapeutischen Erfahrungen und in diesem Zusammenhang natürlich auch mit Mutismus als Traumafolge: 'Interventions in elective mutism'. Diese Arbeit wurde in keiner Fachzeitschrift veröffentlicht und wird in den Literaturverzeichnissen der deutschen Mutismus-Fachmänner Bahr und Hartmann nicht genannt. - Das originale Referat ist zu lesen auf Torey Haydens website: www.torey-hayden.com/research/interventions-in-EM-study.pdf; eine deutsche Übersetzung wurde von der T.B.L. erstellt. Leider haben wir auf mehrfache Anfrage, sie online stellen zu dürfen, keine Antwort erhalten. – Interessierte können die Übersetzung auf Anfrage als mail (pdf) erhalten! M.v.L.