Beschneidung von Jungen - Religionsfreiheit (der Eltern) oder - - ?
Derzeit wird das Urteil eines Landgerichts heftig diskutiert, in dem die Beschneidung eines muslimischen Jungen als Körperverletzung bezeichnet wird. Kritisiert wird das Urteil als beispielloser Angriff auf das religiöse Selbstbestimmungsrecht von Muslims wie Juden. Es wird betont, die "Babys" würden den winzigen Schnitt kaum wahrnehmen, sondern oft "einfach weiterschlafen" (G. B. Ginzel). (Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen vierjährigen - muslimischen - Jungen. - Bei You Tube gibt es jetzt ein Video, daß ein jüdisches Baby bei dieser Prozedur zeigt - schreiend.) Das Urteil wird als möglicherweise antisemitisch begründet interpretiert (mit dem Verbot der Schächtung, der religiös begründeten Tierschlachtung, fing es bei den Nazis auch an..), mindestens wird drauf hingewiesen, daß jetzt die Neonazis Oberwasser haben. Auch Politiker wollen derzeit vor allem Ruhe und Ordnung wiederherstellen, sprich: Rechtssicherheit für Beschneidungen. -
Zweifellos ist das eine schwierige Situation, in der es keine einfache Lösung gibt. "Beschneidungen", also Genitalverstümmelungen können in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Schweregrad vorgenommen werden, dies sowohl bei Jungen wie bei Mädchen (vgl. den Link zu grundsätzlichen Informationen hier unten). Nur im Hinblick auf weibliche Betroffene liegen bereits eine Fülle von Dokumentationen vor, für die entsprechenden Praktiklen bei Jungen hat sich bislang noch kaum jemand interesiert. Es scheint aber auch hierzulande eine Grauzone von in der Kindheit beschnittenen Männern zu geben, die jetzt erstmalig den Mut finden, über ihr damit verbundenes Leid zu sprechen! (Über die Situation in anderen Ländern und Erdteilen weiß außer Spezialisten kaum jemand etwas.)
Die mögliche Zerstörung der Integration von Menschen muslimischer wie auch jüdischen Glaubens in Deutschland wäre eine schlimme Konsequenz einer entsprechenden Rechtsprechung.
Dennoch ist dieses Landgerichtsurteil ein richtiger, in die Zukunft weisender Schritt! Das individuelle Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper gehört zum Artikel 2 des Grundgesetzes. Eingeschränkt werden kann es nur, wenn jemand offensichtlich nicht entscheidungsfähig ist bei gesundheitlich notwendigen medizinischen Eingriffen.
Übrigens fand ich auch kleine Mädchen mit Ohrlöchern schon immer befremdlich. Daß dieses Thema jetzt mit diskutiert wird, halte ich für angemessen. KINDER SIND MENSCHEN WIE DU UND ICH - aber immer wieder in Gefahr, zu OBJEKTEN der Erwachsenwelt zu werden. Wir alle müssen unsere Aufmerksamkeit schulen, um solchen alltäglichen, "selbstverständlichen" Instrumentalisierungen der Kinder immer wieder entgegenzusteuern.
Wenn Jörg v. Essen vor dem Bundestag erklärt (ZEIT 34/12): "Mein Onkel war Aufseher in Auschwitz. Ich habe ihn immer gehaßt. Ich mußte keine zwei Sekunden überlegen, wo ich stehe, als ich von dem Kölner Urteil erfuhr", läßt das bedenkliche Rückschlüsse zu. Nicht mehr als zwei Sekunden muß man als Mitglied der deutschen Legislative über dieses Problem nachdenken?
Meines Erachtens zeigt sich in den öffentlichen Diskussionen zum Thema ein Denkzwang, der in falschen Alternativen verharrt, um wirkliches Weiter-Denken zu vermeiden. - Falls jetzt eine "Lex Beschneidung" gebastelt wird, geschieht das zweifellos ausschließlich im Interesse von "Ruhe und Ordnung" und in der Sorge vor der antisemitischen Schublade. Um die Kinder geht es dabei nicht.
Mir wird schlecht bei den derzeitigen Kommentaren von Politikern und anderen Meinungsträgern, in denen es ausschließlich um die verletzten Gefühle von (erwachsenen) Muslims und Juden geht, aber die Opfer der Beschneidung nur als Objekte genannt werden, für die das eh "nicht schlimm" sei. - Entlarvend ist, daß die betroffenen Kinder in den allermeisten Argumentationen pro Beschneidung (von Publizisten, Politikern, Sozialarbeitern oder religiösen Funktionären) mit keinem Wort erwähnt werden! Zur Diskussion gestellt werden ausschließlich die Empfindungen und (religiösen) Gewohnheitsrechte der Erwachsenen, also der Eltern. Genau hier liegt meines Erachtens der eigentliche Zündstoff der vehementen öffentlichen Diskussion: "Wo kämen wir denn hin, wenn Kleinkinder tatsächlich ernstgenommen werden sollen als Rechtssubjekte?!"
Übrigens steht auch die individuelle Religionsfreiheit bei uns im Grundgesetz (Artikel 4). Für Kinder gibt es dazu die Ausführungsbestimmung der "Religionsmündigkeit" mit 14. - Folgerichtig wäre, daß jemand sich mit 14 für eine religiös begründete Genitalverstümmelung/Beschneidung selbst entscheiden können sollte.
Bedauerlicherweise wird diese angebliche Nebensache jetzt manchmal aufgerechnet mit dem zweifellos unvergleichbar schwereren Leid sexuell traumatisierten Mädchen und Frauen - nach dem Motto: "Jetzt regen sich die Männer über ihren Schniepel auf und ignorieren wieder die hundertausende sexuell mißbrauchter und ermordeter Mädchen und Frauen!" -
Nein! Es geht um die unteilbare Solidarität mit Kindern (beider Geschlechter) gegenüber dem Machtmißbrauch von Erwachsenen. - Eine öffentliche Anerkennung von Leid, dem Männer (männliche Kleinkinder) aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt sind, könnte mittelfristig sogar zu stärkerer Solidarisierung von Männern mit dem Leid von Frauen (Mädchen) beitragen.
Und noch was anderes: Das Wesen einer Religion liegt nicht in ihren einzelnen Ritualen und Symbolen. Es liegt in der authentischen Bindung (religio) von Menschen an ein namenloses Ganzes, die zur Grundlage werden könnte oder sollte für verantwortungsvolles Leben hier auf der Erde. "Wir müssen uns von einer Theologie trennen, die Gott für alles verantwortlich macht. Gott hat den Menschen nicht in die Welt gesetzt und ihn zu Passivität verurteilt", hatte der oben zitierte G. B. Ginzel 1980 geschrieben. Der Streit über Sinn und Bedeutung von YHWHs Gesetzen hat schon immer zur jüdischen Tradition gehört, so ist es bis heute. Rituale und Symbole hatten während der 200 Jahre jüdischer Diaspora zweifellos eine unverzichtbare Funktion. Diese Zeit ist aber vorbei, und in Israel werden religiös begründete Traditionen in großer Radikalität diskutiert und umgewertet. Auch im Islam gibt es meines Wissens zu vielen Fragen sehr unterschiedliche Lehrmeinungen; hochrangige Geistliche haben bereits religiöse Gutachten GEGEN die Beschneidung (der Mädchen) erstellt.
Der jüdische Arzt und Philosoph Maimonides (1135-1204) schrieb übrigens zu diesem Thema:
"Was die Beschneidung angeht, so bin ich der Meinung, daß eines ihrer Ziele die Einschränkung des Geschlechtsverkehrs und die, soweit wie möglich, Schwächung des Fortpflanzungsorgans ist, um die Mäßigung des Mannes zu erwirken. Manche Menschen glauben, mit der Beschneidung wird ein Defekt im männlichen Körperbau behoben, aber darauf kann man einfach erwidern: Wie können Werke der Natur so fehlerhaft sein, dass sie einer externen Ergänzung bedürfen, zumal der Nutzen der Vorhaut für dieses Organ so eindeutig ist. Der körperliche Schaden, der diesem Organ zugefügt wird, ist genau der gewünschte. Dies ist, so glaube ich, der beste Grund für das Gebot der Beschneidung." (in: 'Führer der Unschlüssigen')
Mondrian v. Lüttichau
Hier ein paar Links:
Offener Brief von Medizinern FAZ 21.7.2012
FRANKFURTER RUNDSCHAU online 18. 7. 2012: Unterschätztes Trauma-Risiko
Der jüdische Historiker Michael Wolffsohn: "Nicht die Beschneidung macht den Juden!" (Welt 28.8.2012)
Beschneidung eines jüdischen Jungen: Video bei You Tube.
Statement des Israeli Eran Sadeh, Organisation 'Protect the Children'
Petition gegen eine Legalisierung der Beschneidung
Foto: Beschneidung (Achtung! Kann triggern!)
Video einer Beschneidung (Achtung! Kann triggern!)
ARBEITSKREIS KINDERRECHTE e.V.
Und ein neues Buch: Clemens Bergner (Hrsg.): Ent-hüllt. Die Beschneidung von Jungen - nur ein kleiner Schnitt? Betroffene packen aus über Verlust, Schmerzen, Scham (Hamburg 2015)